Schweigend stehen wir uns in der Küche gegenüber, jeder an eine Arbeitsplatte gelehnt. Der Liebste holt einmal tief Luft „weißte was? scheiß ein drauf“, sagt er, geht in die Speisekammer und kommt mit der Flasche Whiskey in der Hand wieder raus. Gute Idee. Er nimmt ein Wasserglas aus dem Schrank, schüttet es halb voll, nimmt einen Schluck und reicht es mir weiter. Es ist Montag morgen, noch nicht mal neun Uhr.
Das ging leichter, als er gedacht hätte, sagt der Liebste. Er hatte damit gerechnet, irgendwie panisch zu reagieren, aber, es gab ja nur eine Richtung, und was man da tun muss bekommt er jedes Jahr auf der Schulung erzählt, immer wieder, irgendwie funktionierte das einfach. Er war wirklich toll, ich hätte das garnicht so geschafft, glaube ich. „Ach, von der Kraft her war das überhaupt kein Problem“, sagt er. Aber. „Das bei Herzdruckmassage Rippen brechen, sagen die ja immer“, er nimmt noch einen Schluck, aber wie viele, und wie sich das anfühlt, und dieses Geräusch…damit hatte er nicht gerechnet. Ich war auf das Gefühl, keinen Puls zu finden auch nicht vorbereitet. Meine Hände zittern, es fällt mir gerade erst auf.
Die Frau von der Diakonie kam ganz aufgeregt durch den Garten, und bat dringend um Hilfe. Sie hatte den Nachbar bewusstlos in der Wohnung gefunden, damals, vor einer Stunde. Das war nicht wirklich eine Überraschung, wir hatten den Ernstfall vor einigen Wochen schon mal gedanklich durchgespielt. Unser Gedankengang endete allerdings damit, wer ihm eine Krankenhaustasche zukommen lassen könnte. Die braucht er nicht. „Patient ex“, hat der Notarzt es genannt.
Der Liebste hatte Nachtschicht und war quasi schon im Bett gewesen. Er will nochmal versuchen, zu schlafen. Ich koche einen Kaffee und bringe ihn der Frau von der Diakonie an den Zaun. Sie hat ein paar Telefonate erledigen müssen in der Zwischenzeit und den Rest des Tages frei. Ihre Hände zittern auch. Wir setzen uns. Die andere Nachbarin schläft länger und hat nichts mitbekommen. In ungefähr einer Stunde erwartet sie den Verstorbenen zum Kaffee, die zwei sind, wie man hier sagt „ein Kopp und ein Arsch“, aber verwandt sind sie nicht. Der offizielle Weg ist vermutlich, das ein Angehöriger ihrem Sohn bescheid sagt, der dann von Berlin aus anruft, um ihr die Nachricht schonend zu überbringen. Das kann dauern. Sie darf eigentlich noch nicht mal mit mir sprechen, sagt die Frau der Diakonie, fällt alles unter die Schweigepflicht. Wir schauen uns an. Scheiß auf den offiziellen Weg. Wenn die Nachbarin gleich den Rollladen hochzieht und hat die Polizei und den Bestatter im Garten, dann brauchen wir wieder einen Rettungswagen. Wir machen das zusammen- jetzt. Nachbarn haben keine Schweigepflicht.
Nachmittags gibts Geburtstagskaffee. Schwiegeroma wird 102. Sie freut sich über jeden einzelnen Gast. Seit neun Uhr residiert sie im Sessel. Der frühere Bürgermeister kam immer zeitig, zum Gratulieren. Der Neue kam erst um halb elf. „Der wollte erst nicht reinkommen, dann keine Hand schütteln und dann keinen Kaffee trinken“, sagt Schwiegermutter. „Aber – hat er alles gemacht“, erzählt die Jubilarin fröhlich. Schwiegermutter zuckt mit der Schulter und nickt. „Blieb ihm nichts anderes übrig“. Ab dem 95. (glaube ich), kommt der Bürgermeister persönlich zum Gratulieren. Schwiegeroma freut sich immer und schäkert legendär. „Beim letzen Mal hat sie ihn mit „mal sehen, wer von uns im nächsten Jahr noch da ist“ verabschiedet“, sagt Schwiegermutter. In dem Jahr war Wahl. „Och, der Neue ist aber auch ein ganz Netter“, sagt Schwiegeroma.
Zwei Tassen Kaffe hatte ich heute. Unterschiedlicher hätte die Stimmung kaum sein können.
Abends stoßen der Liebste und ich an, stilecht mit Bier. Auf Friedhelm.
Ein Kommentar zu „Schnaps und zwei Tassen Kaffee“