Hochgradig verwandt

Ein Honigkunde hat sich telefonisch angekündigt und steht jetzt fröhlich vor der Tür. Seine beiden Töchter begleiten ihn. Das ist schön, wir haben uns ewig nicht gesehen, sie kommen einen Moment rein. Sippen-Smalltalk. Die entferntere Verwandschaft kennt man nicht wirklich gut, aber das Wichtigste wird innerhalb der Familie natürlich weitererzählt. Der Honigkunde ist heute selbst gefahren, den ganzen Weg, sagt er. Demnächst will er an die Mosel fahren, zur Walnussernte. Dort gebe es jede Menge Walnussbäume und es gilt das Jedermannsrecht, da darf jeder sammeln. Das macht Spaß und man muss dann im Winter nicht die Walnüsse kaufen, die einmal um die halbe Welt geflogen wurden. Die Ernte wird dann im Arbeitszimmer nach Größe sortiert und getrocknet. Zum Knacken der Nüsse hat er einen kleinen, flachen Korb und einen Hammer, das geht richtig gut. Die Tochter backt dann Nusskuchen, der ist auch richtig gut. Naja, jedenfalls hatten die Mädels gesagt, bis an die Mosel lassen sie ihn nicht mit dem Auto, einfach so, da musste er vorher einmal eine lange Strecke in Begleitung fahren, um zu gucken, ob das wieder geht. „Un?“, frage ich, „ging gut?“ „Ja, sicher“, sagt er, das sei überhaupt kein Problem gewesen, hatte er ja von Anfang gesagt. Die Töchter zucken mit den Schultern und nicken. Tatsächlich, das ging, besser als gedacht. Es war ja auch nur, weil er im letzten Jahr nicht viel gefahren ist, und wenn, dann immer nur Kurzstrecke. Genaugenommen war er vor einem Jahr so krank, das man dachte, er schafft es nicht bis Weihnachten, aber das sagt natürlich niemand.

Wo denn die Kinder alle seien, erkundigen sie sich. Die schlafen noch, oder tun zumindest so. Ach, das ist schade, die hätte man gern mal wieder gesehen. Dann müssen die drei schon weiter, sie haben noch viel vor, heute. Der Honig wird bezahlt und noch ein Schein extra dazugelegt, für die Kinder, kann ich aufteilen, oder einfach Eis für alle kaufen, sagt er, und ganz herzlich grüßen soll ich alle.


Ich schiebe dem Märzkind einen kleinen Stapel Münzen hin. Sie guckt mich fragend an. „Mit herzlichen Grüßen vom Winne“. „Hä, wer ist denn Winne?“ Na, Onkel Winne, der hatte Honig bestellt und hat den heute morgen abgeholt. Sie guckt immernoch fragend. „Eigentlich ist er dein Großonkel, oder nee, warte, er ist mein Großonkel, dann ist er dein, äh, ja was denn eigentlich?“ google: der Onkel meiner Oma ist mein? Großonkel 2. Grades. Aha.

Das Pluseins-Kind hat währenddessen den Kleingeldstapel einmal umgeschichtet. „Großonkel 2. Grades“, murmelt er. Für diesen Betrag, da muss er eine Stunde arbeiten, und sie, sie bekommt das einfach so geschenkt, von einem Großonkel 2. Grades. Er schüttelt mit dem Kopf. Soweit er weiß hat er solche Verwandschaft garnicht – geschweige denn, dass die vorbei kommen und ihm was schenken. Sie kennt den Winne ja auch nicht, sagt das Märzkind. „Aber ich freue mich trotzdem, wenn der ab und zu kommt, der ist nett“, lächelnd steckt sie das Geld ein. Das Pluseins-Kind schüttelt immernoch mit dem Kopf.

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